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Tina Thiele
TinaThiele

„Casting ist wie ein Kaleidoskop.“

Wer sich die Vita von Tina Thiele anschaut, der weiß gleich, was ihre Leidenschaft ist. Sie betreibt das Branchenportal casting-network, ist Bloggerin/Vorstandsvorsitzende bei out takes sowie Autorin des Buches „Casting“. Im Interview mit medienvorsorge.de erzählt sie von ihrem Werdegang, ihrer Leidenschaft für das Casting, aber erzählt auch davon, wie die Corona-Pandemie die Filmbranche trifft – und was man als Betroffener dagegen tun kann.

Sie haben Theater-, Film- und Fernsehwissenschaften sowie Kulturelles Management in Köln studiert. Wann war Ihnen klar, dass Sie zum Film möchten?
Ursprünglich komme ich aus dem Tanzbereich. Fürs Studium der Theater-, Film- und Fernsehwissenschaften schrieb ich mich Mitte der 1990-er Jahren in Köln an der Universität ein, da sie auch Tanz als Theoriefach anbot. Wie sich herausstellte, war das Programm mit einem Kurs pro Semester sehr überschaubar ;-). Parallel arbeitete ich als studentische Hilfskraft im Tanzarchiv, wo ich mich eingehend mit Tanzverfilmungen beschäftigte. Große Faszination – die bis heute anhält – löste bei mir auch ein Seminar über die Filme der Weimarer Republik aus, angefangen beim „Cabinet des Dr. Caligari“ über „Nosferatu“ bis hin zu „Metropolis“. Spätestens ab da war mir klar, dass ich bei der Realisierung von Filmen mitwirken bzw. darüber schreiben wollte.

Schon während des Studiums haben Sie im Castingbereich gearbeitet. Wie kam es dazu?
Das war ein glücklicher Zufall. Ich war bereits im Hauptstudium – heute würde man es Masterstudium nennen – und hatte für eine Seminararbeit mit der Sekretärin eines Produzenten ein Interview geführt. Wir waren uns sympathisch und sie fragte mich, ob ich einen Job bräuchte, sie würden gerade einen Kinofilm vorbereiten. So stieg ich 2000 bereits im Drehbuchstadium bei der Produktion von „Edelweißpiraten“ ein. Nach einem Praktikum haben sie mir den Posten als Casting Director angeboten. Das war mein Ticket in die Casting-Arbeit.

Milos Forman hat mal gesagt: „Casting is everything.“ Warum?
Casting ist im Kern eine kreative Dienstleistung. Was so einfach klingt, ist in Wirklichkeit ein ziemlich komplizierter Prozess, den ich gerne mit einem Puzzle vergleiche. Um die Leistung des Castings wirklich zu begreifen, geht es nicht unmittelbar um das Entdecken einzelner Schauspieler*innen für eine Rolle, sondern die Stimmigkeit des Gesamtbildes. Casting Director Risa Kes beschrieb das passenderweise so: Casting ist wie ein Kaleidoskop. Bewege ich das Gesamtbild an einer Stelle, entsteht ein völlig neues Bild.

Kommt bei der Kreditierung / im Abspann das Casting zu kurz?
Der Casting-Prozess steht am Anfang einer langen Reise bis ein Film dann hoffentlich auf die Leinwand kommt. Am Ende wird das Casting dann gerne auch mal vergessen zu erwähnen, wobei sich das auch gebessert hat. Sehr gute Casting Directors schaffen es auch in den Vorspann. Nicht selten rühmt sich aber auch ein*e Produzent*in, Regisseur*in, Verleiher*in oder Redakteur*in, wie gut er oder sie gecastet hat. Weil um die 100 Casting Directors aus dem deutschsprachigem Raum gut beschäftigt sind, zeugt dies von anerkanntem Können, denn Geld ist ja bekannter weise knapp in der Branche – und für einen unnötigen Posten würde niemand welches ausgeben.

Gibt es Unterschiede zwischen der Castingbranche in Deutschland und, sagen wir, in den USA?
Das hat sich in den letzten Jahren auch durch die Globalisierung angenähert, aber in den USA ist es immer noch mehr Business mit Gagenabfragen und Verhandlungen. Was nicht bedeuten soll, dass es dort kein kreativer Beruf ist oder ich die Kunst der guten Verhandlung nicht schmälern möchte. In den USA legen die Drehbücher ganz klar fest, wie eine Rolle auszusehen hat: Physiognomie, Alter, kultureller Hintergrund, Aussehen, aber auch Gemütszustand. Dies kann in dem sogenannten Breakdown „runtergebrochen“ werden. Im Kern wird in einer Job-Börse genau definiert, wer hier gesucht wird. In Deutschland sind die Drehbücher viel vager in ihren Figurenbeschreibungen, was aber unter Umständen auch einen größeren Kreativitätsspielraum bietet. Teilweise ist noch nicht mal festgehalten, ob die Rollen von Schauspieler*innen oder Kleindarsteller*innen gespielt werden sollen. Dennoch gehören Gagenabfragen und Verhandlungen mittlerweile hierzulande auch zum Standard. Ein weiterer Unterschied ist sicher noch, dass Schauspieler*innen in den USA wochenweise gebucht werden. In Deutschland pro Tag. Da ist das Thema Terminabfrage viel komplexer als drüben.

Wie kann man sich die einzelnen Schritte eines Castingprozesses vorstellen?
Es gibt in der Regel von jedem zu verfilmendem Stoff eine Drehbuchfassung. Hier ist das Wort „Fassung“ sehr wichtig, denn oft gibt es mehrere Versionen, teilweise auch mit veränderten, erweiterten oder reduzierten Charakteren. In der Regel liest der Casting Director das Drehbuch, macht sich Notizen und entwickelt erste Ideen und Vorschläge für die Besetzung. Dabei werden meist die gängigen Schauspielerdatenbanken genutzt. Allein für Deutschland gibt es aktuell fünf solcher Datenbanken, die relevant sind. Daraus wird eine Auswahl an Schauspieler*innen zusammengestellt, die der Casting Director der Produktion vorschlägt. Es folgen E-Castings, Live-Castings und am Ende sogenannte Ensemble-Konstellations-Castings.

Wie kamen Sie auf die Idee, ein Buch über das Casting zu schreiben?
„Casting – ein historischer Abriss der Physiognomie von Gesichtern“ war das Thema meiner Magister-Abschlussarbeit. Das war auch einfach eine Frage der Ökonomie: Ich habe als Casterin gearbeitet und „nebenbei“ studiert. Die Magisterarbeit selbst fand beim Professor nur mäßigen Anklang: „zu praxisorientiert“ war die Aussage. Die Casting Directors, die mir Rede und Antwort gestanden hatten, mochten sie sehr. Letztlich empfahl der Regisseur Richard Huber die Arbeit seiner Schwester, die beim UVK-Verlag arbeitete. Ein Jahr später war das Buch im Fachhandel erhältlich. Der Verlag zahlte sogar ein kleines Honorar vorab, welches ich in weitere Interviews mit Casting Directors weltweit investierte.

Und wie kam es dazu, dass das Branchen-Portal Casting Network quasi die Fortsetzung des Buches wurde?
Die Ausgangssituation war ähnlich: abends studierte ich Kulturelles Management, um mir Grundlagen in Jura, Rechnungswesen und BWL anzueignen, tagsüber schrieb ich das Buch um … oder ich würde sagen, neu. Die Uni war einverstanden, dass ich meine Diplom-Abschlussarbeit für das zweite Studium über mein damaliges Casting-Projekt gesichter-gesucht machen dürfte, denn so hieß casting-network damals noch. Und der Verlag erklärte sich bereit, dass der versprochene Adressenteil des Buches auf die Website wandern durfte. Eigentlich sollte dies „als Gelbe Seiten“ ans Ende des Buches gestellt werden … Das ist nun etwa 15 Jahre her. Zur damaligen Zeit wurde das Internet als „wegweisendes Model mit Zukunft“ noch belächelt. Schlussendlich ließen sich sowohl die Uni als auch der Verlag darauf ein.

Was bieten Sie mit casting-network konkret? Wer sind die Nutzer der Plattform?
Bis heute besteht mein Portal casting-network aus den „Gelben Seiten“ der Branche – also den gesammelten Adressen, meiner journalistischen Arbeit und der Job-Börse. Allerdings caste ich selbst nicht mehr aktiv, sondern arbeite nur noch als Redakteurin. Das fand ich wichtig für die Objektivität meines Netzwerkes.  Wir schreiben nicht nur über Probleme, sondern versuchen, Lösungen für die Branche zu finden. Ein Beispiel wäre hier unsere cast-Box. Viele Schauspieler wünschten sich mehr Job-Angebote für Profis. Casting Directors wiederum gaben zu, dass sie bei einer Ausschreibung die Bewerbungsflut der E-Mails und anderen Kommunikationswege einfach nicht meistern könnten. Die Lösung war somit unser Cast-box Postfach-System. Der Caster inseriert und alle Bewerbungen gelangen – unabhängig von Ort und Zeit – in diesem digitalen Briefkasten, welches mit einem umfassenden Kommunikationstool bestückt ist.

Wie groß ist Ihr Team, welche Aufgabenbereiche gibt es?
Ich habe drei sehr engagierte Angestellte und drei feste freie Mitarbeiter*innen wie zum Beispiel fürs Lektorat und den TV-Bereich. Zudem kaufen wir ab und zu Fachartikel ein oder engagieren Kameraleute oder Cutter*innen.

Außerdem sind Sie Vorstandsvorsitzende beim out-takes-Blog. Was machen Sie dort?
out takes betreibe ich gemeinsam mit Oliver Zenglein und Peter Hartig. Es ist ein Networking-Projekt von drei Firmen (casting-network, Cinearte und Crew-United). Ein Blog aus der Branche und für die Branche, auf dem aktuelle, aber auch hintergründige Themen aufgegriffen werden.

Sie arbeiten als Autorin, Journalistin und Dozentin. Wie konnte man sich Ihren Arbeitsalltag bis Ende Januar vor dem Shutdown vorstellen?
Hier dreht sich alles um die Berlinale. Nach der Pressekonferenz bleiben uns in der Regel fünf Tage, um ein komplettes Special über das Programm, die Events und Hintergründe zu schreiben. Da darf kein Kind krank werden – ich verteile im Vorfeld schon Vitaminkuren!

Welchen Einfluss hat die Corona-Pandemie auf Ihren Arbeitsalltag?
Ich arbeite wesentlich mehr im Home Office und führe viel mehr Telefonate, weil die direkten Gespräche wegfallen. Ich ersticke manchmal in einer Flut von Informationen und muss geplante Veröffentlichungstermine komplett umdisponieren. Gott sei Dank erfolgreich.

Inwiefern trifft Corona die Film- und Fernsehbranche im Allgemeinen?
Ich denke, es trifft sie mit absoluter Breitseite. Die Kinos sind geschlossen, es wird weltweit nicht mehr gedreht. Die ganze Industrie ist nahezu zum Erliegen gekommen. Das Hauptproblem ist, dass eben keiner weiß, wann es so richtig los geht und alle irgendwie doch auf den Startschuss warten, wann wieder gedreht werden darf. Dann werden die Casting Directors sicher viel zu tun haben.

Können Sie ein wenig über das Projekt #BeCreativAtHome! erzählen?
Ich habe am 23. März die Initiative mit meinem Team #BeCreativeAtHome gestartet. Grund war, dass wir die Job-Börse von uns aus dicht gemacht hatten, aber auch ein Gegenangebot liefern wollten: Auf der Startseite casting-network findet jeder eine Auswahl an Beiträge – allen voran von deutschen Schauspieler*innen, die im Ausland leben (https://www.casting-network.de/Offener-Bereich/cn-klappe/sehen/). Weitere Homestories haben wir in der folgenden hier (https://www.casting-network.de/Offener-Bereich/cn-klappe/lesen/303-BeCreativeAtHome-Further-Collection.html) untergebracht. Dazu entstehen parallel Interviews mit Filmschaffenden weltweit:  Casting Director Lina Todd spricht über die Lage in New York , Agentinnen Kerstin Neuhaus und Maria Vascsak berichten über die Situation in Schweden und Schauspieler Volker Helfrich erzählt von seinen Eindrücken China Wir arbeiten hier als Team Tag und Nacht, sichten, stellen die Videos ein und geben den Schauspieler*innen Feedback. Nun planen wir ein Special als Online-Magazin und suchen hierfür noch einen Sponsor;-)

Was würden Sie Schauspieler*innen in der jetzigen Situation raten?
Pragmatisch gesehen: Froh sein, dass sie gesund sind, ein Dach über dem Kopf und was zu Essen im Kühlschrank haben. Wer dennoch Trübsal bläst, sollte unser aktuelles #BeCreativeAtHome-Video und das gerade ins Netz gestellte Interview über New York mit Lina Todd lesen oder auch das Interview mit den Agentinnen und der Schauspielerin über Schweden. Das eine zeigt, wie schlecht es in den USA läuft; das andere, dass Schweden hierzulande ein allzu nostalgisches Image in den Medien erhält. Wobei es nicht mein Ziel ist, zu moralisieren, sondern Solidarität zu zeigen.

Gibt es für Sie, sagen wir, „Helden der Branche“?
Hier fallen mir zum Beispiel meine Journalisten-Kollegen Rüdiger Suchsland und Peter Hartig ein, die immense Arbeit für unseren Blog out-takes leisten und allabendlich mit einem kühlen Kopf Licht in den digitalen Info-Dschungel bringen. Aber auch andere tolle Leute aus der Filmbranche, die gerade kostenlos ihr Know-how mit Workshops zur Verfügung stellen, wie etwa der Coach Wolfgang Wimmer auf YouTube. Last but not least, und mir am wichtigsten, sind meine Mitarbeiter*innen, die auch in dieser nicht einfachen Situation mit hundertprozentigem Einsatz bei der Arbeit sind. Und dies vielfach mit kleinen Kindern, die gerade nicht extern betreut werden.

Außerdem würde ich Ihnen gerne, dem Format entsprechend ein paar Fragen zu Ihren Finanzen stellen. Kümmern Sie sich selbst um Ihre Finanzen?
Für größere Investitionen mache ich immer noch Businesspläne. Das ist aber stets ein Mix aus Texten und Zahlen zur Belustigung des Finanziers. Zwei Mitarbeiterinnen, die eine an erster Front, die andere in Vertretung, machen werktags täglich die Rechnungen und die Umlage, sodass ich am Ende des Monats nur noch den Ordner zur Durchsicht und Unterschrift erhalte. Und wenn beide mal krank oder in Urlaub sind, denke ich umso dankbarer an die gute Arbeit, die sie leisten. Ich mache das dann, bin aber kein Fan von Buchhaltung.

Hilft Ihnen da auch Ihr Studium im Bereich Kulturelles Management?
Ja, um zu erahnen, wo Fallen sind und wo man aufpassen muss: Fotoverwertungsrechte, Verträge, Versicherungen, Steuern, Altersvorsorge etc. Das war für mich wirklich Neuland. Das Studium Kulturelles Management wurde an der Uni damals auch extra für Magister-Absolventen in Geisteswissenschaften angeboten. Das Studium fand abends statt und durchlief vielfach meine Träume. Morgens wachte ich oft auf und fand mich mit einem Bein im Gefängnis, dem anderen im Krankenhaus… Der ein oder andere „Fall“ hat mich wohl nicht ruhig schlafen lassen. Dies hat sich in der Praxis relativiert, aber es hilft mir, auf die wichtigen Fallstricke zu achten.

Wie rechnen Sie Ihre angebotenen Dienstleistungen ab?
Da wir eine Branche sind, in der man sich untereinander kennt, ganz oldschool mit Überweisung. Hierfür haben wir uns ein eigenes Buchhaltungssystem konfigurieren lassen.

Haben Sie jemanden, der sich für Sie um die Steuer kümmert?
Außerhalb des Büros wären das die wunderbare Frau Rheintjes und Herr Osthorst von der in stereo Steuerberatungsgesellschaft, die die Steuer für uns machen.

Wie wichtig ist für Sie das Thema Altersvorsorge?
Ja. Ich zahle, seitdem ich mich als Journalistin selbstständig gemacht habe, ins Presseversorgungsamt ein und habe Riester und Rürup-Rente, da ich in der KSK versichert bin. Bei Firmengründung hatte ich auch den tollen Mentor und Coach Bertram Abel an meiner Seite, der mit mir das Thema damals schon anging. Altersvorsorge ist noch wichtiger, seitdem man eigene Kinder hat und auch sieht, wie sich die eigenen Eltern da abgesichert haben.

Vielen Dank für das Gespräch!

Interview: Jan Wehn